Eine Anleitung für alle, die schreiben wollen
von Ingo Reichardt
Ihr müsst so schreiben, dass euch die Marktfrau am Dom versteht, der Winzer in Rheinhessen das Blatt lesenswert findet und auch der Universitätsprofessor euch ernst nimmt". Erich Dombrowski, ehemaliger Chefredakteur der Mainzer Allgemeinen Zeitung und Mitherausgeber der FAZ.
Zielobjekt Leser
Wer nicht gerade seine intimsten Gedanken einem Tagebuch anvertraut, schreibt, um sich anderen mitzuteilen. Ob Brief oder Meldung, ob Bericht oder Reportage, immer ist ein konkreter oder imaginärer Leser Adressat der verfassten Zeilen. Ihn gilt es zu erreichen, mit Informationen, Fakten und Wissen zu versorgen. Der Leser steht also im Mittelpunkt der schreiberischen Bemühungen, ist Kunde, auch wenn sich bei manchen Veröffentlichungen der Eindruck aufdrängt, dass dieser Tatbestand von den jeweiligen Autoren einfach oder gar arglistig vergessen worden ist. Der verständliche Text beginnt deshalb mit der Überlegung, an wen er sich richtet. In vielen Fällen ist diese gedankliche Mühe schwierig, weil der hoffentlich geneigte Leser ein weitgehend unbekanntes Wesen ist. Vor allem dann muss gelten, das Mitteilenswerte so einfach wie möglich abzufassen, ganz nach dem zu beherzigenden Eingangszitat von Erich Dombrowski. Es ist allemal besser, auch für die Marktfrau verständlich zu schreiben, als möglicherweise den sogenannten oder selbsternannten Experten mit angeblicher Plattheit zu verärgern.
Hilfsmittel Gliederung
Jede Story, jeder Bericht sollte eine Gliederung, einen roten Faden, besitzen, so wie wir es schon für den Schulaufsatz gelernt haben. Im einfachsten Fall also: Einleitung, Hauptteil und Schluss. Wem diese Einteilung nicht wie selbstverständlich aus der Feder fließt, sollte auf Systematik setzen. Stichworte sammeln, wichtige Fakten und Gedankengänge, die sich dann auf die einzelnen Abschnitte eines in Angriff genommenen Textes sortieren lassen. An dieser Gliederung kann man sich dann wie an einem roten Faden durch die „Geschichte" hangeln. Auch der Leser ist für eine Unterteilung des Stoffes dankbar. Möglichkeiten hierfür bieten sinnvoll gesetzte Absätze, aber auch Zwischenzeilen. Diese Überschriften über wichtigen Textabschnitten erlauben die bessere Einstellung auf den zu erwartenden Inhalt, geben Zeit zum Überdenken des schon Gelesenen und des noch zu Erwartenden. Zwischenzeilen sind auch eine Chance für den schnellen Überblick, können die Funktion eines „verstreuten" Inhaltsverzeichnisses übernehmen.
Dramaturgie wie im Theater
Wohl fast jeder von uns hat schon einmal einen Kriminalroman in nur einer Nacht verschlungen. Die atemlose Spannung des Geschehens hat uns um den Schlaf gebracht. Genau genommen, ein Kompliment an den Autoren, der diese Spannung durch den geschickten Aufbau seiner Geschichte systematisch erzeugt hat. Nicht jede Materie hat von Haus aus die Ausstrahlung von „sex and crime", aber einen Spannungsbogen braucht jede, zumal längere Abhandlung. Wie lässt er sich erzeugen? Die vorgetragenen Fakten und Argumente müssen in eine konsequent logische Abfolge gebracht werden, die den Leser im Stillen immer gerade die Frage stellen lässt, die er im nächsten Satz beantwortet bekommt. Dadurch hat er den erfreulichen Eindruck, wie der Detektiv auf der richtigen Spur zu sein, fühlt sich gleichermaßen bestätigt und in seiner Neugier ermuntert, am Text zu bleiben. Eine andere Methode besteht darin, im Vorspann oder in der Einleitung in ganz knapper Form eine oder die entscheidende Aussage vorwegzunehmen und damit den Leser zu der Reaktion zu verlocken: „Das will ich genauer wissen". Journalisten arbeiten häufig mit diesem Kniff, sind aber genauso oft in der Versuchung, dabei zu überziehen. Da wird im Vorspann eine Weltsensation angekündigt, die sich dann im Text gar nicht wiederfindet — kein nachahmenswertes Beispiel.
Besonders wichtig: der Einstieg
Häufig entscheidet sich ein Leser schon ganz am Anfang des dargebotenen Stoffes, ob er aufmerksam weiterliest oder gelangweilt umblättert. Die Einleitung, ja bereits der erste Satz muss das Zielobjekt in die Story „reinziehen", sein Interesse wecken. Dabei ist der Streit um einen guten Einstieg so alt wie das Schreiben selbst. Dennoch haben sich einige Varianten bewährt. So kann der szenarische Beginn durchaus fesselnd sein, wenn der Leser direkt an die Werkbank einer Montagehalle, an die „Kochtöpfe" eines Chemielabors oder an den Laserstrahl einer Forschungseinrichtung herangeführt wird. Dabei gilt es, mit Adjektiven und Verben eine Atmosphäre zu schaffen, die den Platz des Geschehens vor dem geistigen Auge des lesenden Betrachters entstehen lässt, in der Geräusche und Farben, Gerüche und Ambiente sinnlich nachspürbar werden. Eine Alternative ist die historische Einführung, die wichtige geschichtliche Bezüge zum Inhalt der Story herstellt. Wie mit einem Scheinwerfer wird eine Situation beleuchtet, die als Parallele oder als Gegenüberstellung Relevanz zum Geschehen hat. Eine dritte Möglichkeit ist ein stimmiges Zitat, das in seiner Aussage unmittelbar an den Kern der Betrachtung führt, den Leser sozusagen mitten hinein in den Ablauf springen lässt.
Hauptteil und Schluss
Was in der Einleitung angerissen wurde, muss im Hauptteil entwickelt und ausgebreitet werden. Hierzu gehören alle Fakten und ihre Erklärung, die für das Verständnis notwendig sind — aber auch nicht mehr. Die Lesegewohnheiten tendieren immer mehr zu kurzen Texten. Die manchmal schon überbordende Informationsgesellschaft hat keine Zeit mehr für langatmige Abhandlungen, keine Geduld mehr für umständliche Auseinandersetzungen auf dem Papier. Es gilt, schnell und entschlossen zur Sache zu kommen. Wichtig ist die umfassende und geordnete Zusammenstellung aller Bestandteile, die am Ende das „schmackvolle Menü" ergeben sollen. Wie in einem Puzzle muss sich ein Teil ins andere fügen, bis ein geschlossenes Bild entsteht, das der Leser in all seinen Facetten erkennen und nachvollziehen kann. Auch für den Schluss gibt es mehrere erprobte Rezepte. So bietet sich häufig eine kurze, prägnante Zusammenfassung an, die sozusagen das Ergebnis des Textes repräsentiert. Ebenso beliebt ist der Ausblick, der Fragen beantwortet wie: Wie geht es weiter, welche Bedeutung hat ein Verfahren, eine Technologie, ein Ereignis für die Zukunft? Am Ende einer Abhandlung ist auch Platz für Meinung und Kommentar. Nachdem der Autor die Fakten sauber und klar aufgerollt hat, darf er durchaus eine subjektive Wertung dieser abgeben — der Leser ist durch die gewissenhafte Aufbereitung der Textangaben ja in der Lage, sich ein eigenes Urteil zu bilden, das mit dem des Schreibers nicht übereinstimmen muss.
Zwischen Lust und Frust: der Satz
"Die Unklarheit der Sätze ist meist noch größer als die Summe der Unklarheit oder Hässlichkeit der Wörter, aus denen die Sätze bestehen. Redakteure, Wissenschaftler und Behörden demonstrieren Tag für Tag, wie man auch aus verhältnismäßig durchsichtigen Vokabeln Satzschachteln und Buchstabenburgen basteln kann, in denen die Summe der Teile die Teile nicht erleuchtet, sondern verdunkelt". Wolf Schneider, ehemaliger Leiter der Hamburger Journalistenschule
Wie also vermeidet man Satzschachteln und Buchstabenburgen? Ein gängiger Ratschlag lautet: In der Kürze liegt die Würze! Das wirft sofort die Definitionsfrage auf. Laut dpa (Deutsche Presseagentur) sind neun Wörter pro Satz die Obergrenze der optimalen Verständlichkeit, 20 die Obergrenze des Erwünschten und 30 die Obergrenze des Erlaubten. Thomas Mann kam in seinem "Dr. Faustus" im Schnitt auf 31, Hermann Broch im "Tod des Vergils" auf satte 92 Wörter pro Satz - soweit der Vergleich zur Literatur, die ja bekanntlich eigene Freiheiten hat. Richtig ist sicher, dass sich kurze Sätze besser lesen lassen und deshalb auch verständlicher sind. Handelt es sich nicht um Plattheiten, haben sie eine wichtige Voraussetzung: An kurzen Sätzen muss der Autor ernsthaft gearbeitet haben, in langen Formulierungen lässt sich Unwissenheit leichter verstecken. Um es für den Bereich Journalismus zu sagen: Kurze Sätze bedeuten, dass Redakteure die Arbeit getan haben, für die sie bezahlt werden. Aneinandergereiht werden knappe Sätze allerdings schnell zum atemlosen Stakkato. Der Königsweg liegt in der Abwechslung zwischen kurzen und mäßig langen Sätzen, wobei der Schachtelsatz radikal ausgemerzt gehört. Und noch ein Tipp: Hauptsachen gehören in Hauptsätze. Typischer Fall von "denkste": "Der Bundeskanzler, der morgen seinen Rücktritt erklären will, ging heute zum Frisör."
Vom Begreifen der Begriffe
Wer aufmerksam jeden Montag zum "Spiegel" greift, wird gelegentlich selbst an seiner humanistischen Bildung, wenn denn vorhanden, gezweifelt haben. Offenbar gibt es im Hamburger Hauptquartier eine Stelle, deren vornehmlichste Aufgabe es ist, möglichst exotische Fremdwörter in die Texte zu streuen. Dieses Beispiel sollte trotz des Spiegel-Images keine Schule machen. Aufklärung tut vielmehr not. Sicher können Begriffe wie Brot, Fenster oder Hammer als Allgemeingut gelten, aber Rastertunnelmikroskop, Zeolithe oder Isotopenlabor bedürfen zumindest in einem Nebensatz einer Erläuterung. Wer sie schon kennt, kann ja rasch darüber hinweglesen. Eine kurze, treffende Erklärung in wenigen Worten hat einen Nachteil, sie macht Arbeit. Aber hier muss sich der Schreibende selbst disziplinieren, muss Lexika, Nachschlagewerke und Fachbücher wälzen. Im Zweifelsfall gilt, lieber etwas zuviel als zuwenig Hilfestellung, nicht jeder Leser ist vom Fach. Besonders das Schreiben im naturwissenschaftlich-technischen Bereich erfordert vom Wissenden in aller Regel Übersetzungsarbeit. Er muss seine speziellen Kenntnisse, die weit über denen der meisten seiner Ansprechpartner liegen, in eine begreifbare und nachvollziehbare Form bringen. Das beginnt bei Begriffen wie Angström oder Tessla, Joule oder Pascal. In einer Gesellschaft, die nicht einmal in einer Nachrichtensendung wie der Tagesschau die richtige Unterscheidung zwischen Stundenkilometern oder Kilometern pro Stunde zu treffen vermag, sind auch physikalische Grundgrößen erklärungsbedürftig. Schwierige Zusammenhänge lassen sich besser verstehen, wenn sie in Bildern oder Vergleichen dargestellt werden. Ein ppq (part per quadrillion) z.B. kann sich kaum jemand vorstellen, da ist die Angabe hilfreich, dass ein ppq einem Zuckerwürfel im Starnberger See entspricht. Größere Mengen kann man z.B. in gefüllte Eisenbahnwaggons, Gewichte in VW-Golf-Einheiten umrechnen. Das Teleskop als "Auge ins All", das Spermium als "Fähre fürs Erbgut", Signale, die wie "rote Kobolde" in die Nacht glimmen - solche bildhaften Übertragungen beflügeln die Phantasie des Lesers, schaffen Atmosphäre und Verständnis.
Kästen und Tabellen als "Hingucker"
Belebende Elemente gerade von längeren Texten sind Kästen, Tabellen und Diagramme. Kästen lassen sich in vielfacher Hinsicht nutzen. Man kann in ihnen ergänzende Informationen unterbringen, die zum Thema gehören, den Lauftext aber sprengen würden. Denkbar ist auch die Ausgliederung von besonders schwierigen Zusammenhängen, deren Erklärung den Ablauf der Geschichte stören würde. Der Leser kann so selbst entscheiden, ob er eine umfangreichere Auslotung wünscht. Wichtig dabei ist dann ein Hinweis auf den Kasten. Auch eine graphische Umsetzung von Textpassagen, z.B. die gezeichnete oder bildhafte Darstellung von Verfahren, Fließschemata oder technischen Details, mit der zugehörigen Erläuterung passen in ein solches Element. Tabellen sagen häufig mehr als viele Worte. Voraussetzung dafür ist aber eine exakte Bezeichnung aller angegebenen Größen mit ihren physikalischen Dimensionen (also z.B. Nanogramm pro Kilogramm oder Nanogramm pro Kubikmeter) und eine kurze Quintessenz in der Art einer Bildunterschrift, die auf die wichtigste Aussage der Tabelle verweist. Ähnlich verhält es sich mit Diagrammen oder Kurven. Auch hiermit ist der Leser ohne genaue Angaben der dargestellten Beziehungsgrößen häufig überfordert. Zwingend sollte hier ebenfalls eine knapp gefasste Auswertung erfolgen, anhand derer die Interpretation des Diagramms leicht fällt.
Wettstreit der Medien
Auch wenn mehr Papier bedruckt wird als je zuvor, längst ist der schreibenden Zunft ein erbitterter Konkurrent erwachsen: das Fernsehen. Die "Glotze" hat unsere Lesegewohnheiten tiefgreifend verändert, auch wenn auf den vielen TV-Kanälen selten oder nie Fachbeiträge gesendet werden. Die schnelle Information via Bild hat zu Ermüdungserscheinungen beim umworbenen Adressaten geführt, die der "Schreiberling" berücksichtigen muss. Es gilt also, durch knappe, fundierte Texte mit ausdrucksstarker Sprache, Terrain zurückzugewinnen. Auch und gerade Leser, die durch ihre beruflichen Verpflichtungen zur Lektüre gezwungen sind, haben Anspruch auf pfleglichen Umgang durch den Autor. Und das bedeutet für den "Federhalter" zwingend das intensive Bemühen, sich auf sein Gegenüber einzustellen, dessen Bedürfnisse weitgehend zu erfassen und sie durch harte Arbeit zu befriedigen.
"Für mich ist auch die Literatur eine Form der Freude. Wenn wir etwas mit Mühe lesen, so ist der Autor gescheitert". Jorge Luis Borges